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Die Rückeroberung des Stadtzentrums.‍

Die Rückeroberung des Stadtzentrums.

Paris hat in letzter Zeit ein anderes Gesicht. Der riesige Place de la Bastille, vor nicht allzu langer Zeit noch eine rauchgeschwängerte Verkehrsinsel, ist von Bäumen gesäumt. Fußgänger spazieren frei umher und Radfahrer fahren auf der neuen Corona-Piste über den Platz - nur einer der Radwege, die während der COVID-19-Pandemie eingeführt wurden, um das Radfahren in der Stadt zu erleichtern, die nun dauerhaft bleiben werden. Andernorts wurden Parkplätze in grüne Parklets umgewandelt und neue urbane Konzepte auf den Weg gebracht - oder auch schon umgesetzt - um den „Wohnblock” besser zu durchmischen; oftmals findet man jetzt Sozialwohnungen neben Arbeitsateliers, Kitas und soziale Einrichtungen.

All dies ist Teil der Vision einer „15-Minuten-Stadt", das die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, für ihre Stadt maßgeblich vorantreibt - das Projekt umfasst zum Beispiel die Schaffung von Grünflächen, den Bau von 50 km Radwegen, das Verbot umweltschädlicher Fahrzeuge und die Umgestaltung von sieben großen Plätzen. Hidalgo hat weitere 1 Mrd. € pro Jahr für die Instandhaltung und Verschönerung von Straßen, Plätzen und Gärten zugesagt - und Bürgermeister*Innen auf der ganzen Welt schauen mit Interesse zu...

Zeit statt Raum.

Die von Carlos Moreno, Professor an der Universität Paris, entwickelte Idee der 15-Minuten-Stadt erfordert eine völlig neue Denkweise in der Stadtplanung. Es geht nicht mehr um Raum, sondern um Zeit - es geht darum, Städte, Straßen und Viertel so zu gestalten, dass Menschen möglichst wenig Zeit benötigen um von A nach B zu kommen (um dann entsprechend weiter nach C, D usw. kommen zu können). Anstatt die Stadt in Zonen aufzuteilen - Einzelhandel im Stadtzentrum, Industrie in der Umgebung, Wohnen am Stadtrand usw. - wird ein Flickenteppich von Stadtvierteln geschaffen, in denen alles in kürzester Zeit zu Fuß, per Rad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen ist.

Straßen werden zu Fahrradwegen und Fußgängerzonen, Parks und öffentlichen Plätzen umfunktioniert, und alle erforderlichen Bildungs-, Gesundheits- und Freizeiteinrichtungen werden um diese lokalen Zentren gebaut. Es geht darum, die Stadt wieder zu einem Ort des Lebens, der Arbeit und des Miteinanders zu machen, zu einem Ort, an dem man sich trifft und etwas unternimmt, und nicht zu einem Ort, zu dem man pendelt.

Eine Rückkehr zum lokalen Leben.

Die Idee ist im Grunde nicht neu. Um die Wende des 20. Jahrhunderts stellte der amerikanische Stadtplaner Clarence Perry die Idee von wünschenswerten, in sich geschlossenen „Nachbarschaftseinheiten" vor, sogenannte „neighbourhood units”, mit Schulen im Zentrum, „lokalen" Straßen, die von stark befahrenen Hauptverkehrsstraßen getrennt sind und mindestens 10% der Fläche für Parks und Grünflächen.

Gedacht als Reaktion auf die rasant wachsende Industrialisierung, die starke Zunahme des Autoverkehrs in den USA und eine Möglichkeit, Menschen vor dem damals gefährlichen, ungeregelten und zunehmend chaotischen Verkehr zu schützen.

Und selbst damals war die Idee nichts Neues; es war eine Rückbesinnung auf das „Leben vor Ort" - so wie wir in mittelalterlichen Dörfern und Städten lebten, lange bevor das Auto zum König wurde...

In den 1960er und 70er Jahren gewann die Idee an Zugkraft und wurde zu einer Art Trend. Versuche, gemeinschaftsorientierte Städte und Stadtviertel zu schaffen, sind in der einen oder anderen Form von Shanghai bis Barcelona zu beobachten.

Sie sind jedoch immer noch eher die Ausnahme als die Norm. Viertel, die dieses „lokale Gefühl” und diese Begehbarkeit aufweisen, sind selten und daher begehrt - und teuer. Nur die gut Betuchten können es sich leisten, zu Fuß zur Arbeit zu gehen.

Ein Zeichen der Zeit.

Immer mehr Stadtplaner betrachten das Konzept mit neuem Interesse. Im Zuge der COVID-19-Pandemie wurde der eigentliche Zweck der Stadt in Frage gestellt, da große Bürokomplexe in den Innenstädten leer standen und der Einzelhandel geschlossen war - und viele von ihnen für immer. In der Zwischenzeit begannen die Menschen, die sich während des Lockdowns nur in einem kurzen Radius um ihr Zuhause aufhalten konnten, ihre Nachbarschaft mit anderen Augen zu sehen und in vielen Fällen das langsamere Tempo zu schätzen, das ein Leben ohne Pendeln bietet.

Und nicht nur das: Regierungen auf der ganzen Welt müssen die Art und Weise, wie wir leben, völlig neu überdenken, um die versprochene Reduzierung der Kohlenstoffemissionen zu erreichen. Infolgedessen sind von Detroit bis Melbourne Entwicklungen auf der Grundlage des 15-Minuten-Stadt-Prinzips in Vorbereitung, die den Verkehr reduzieren und die Zersiedelung der Landschaft verhindern, darunter auch dieses Projekt in Berlin, an dem wir beteiligt sind.

Im Großen und Ganzen ist die 15-Minuten-Stadt jedoch immer noch ein Ziel, das man anstreben sollte, bei dem es leider noch viele Hürden zu überwinden gilt, bevor es Realität wird. Einer der Gründe für den Erfolg in Paris ist die Dichte der Stadt - und ein hoher Grad an Besiedelung ist notwendig, damit diese Modell funktioniert. Es müssen mehr Menschen im Zentrum wohnen als in den Vorstädten es muss eine Infrastruktur vorhanden sein, die das Gehen und Radfahren erleichtert und es müssen andere Mobilitätsmodelle wie Carsharing vor der Haustür angeboten werden.

Leider ist nicht jeder davon überzeugt - es gibt immer noch Widerstände gegen die Rückgewinnung von Raum, der so lange dem Auto vorbehalten war.

Aber die Dynamik nimmt zu und es gab noch nie einen besseren Zeitpunkt, um die Stadt zu überdenken und neu zu gestalten, als einen für jeden zugänglichen, begehbaren und lebenswerten Ort, und nicht nur für diejenigen, die es sich leisten können...